I. Ruby u.a. (Hrsg.): Sicherheit und Differenz in historischer Perspektive

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Titel
Sicherheit und Differenz in historischer Perspektive / Security and Difference in Historical Perspective.


Herausgeber
Ruby, Sigrid; Krause, Anja
Reihe
Politiken der Sicherheit / Politics of Security (10)
Erschienen
Baden-Baden 2022: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Böick, Center for European Studies, Harvard University

Im August 2022 flackerte ein ohnehin beständig schwelender Streit über Polizeigewalt gegenüber Angehörigen benachteiligter Gruppen hierzulande wieder auf. Beamte der Dortmunder Polizei erschossen einen aus dem Senegal geflüchteten 16-Jährigen mit einer Maschinenpistole in einer Jugendhilfe-Einrichtung. Dieser Fall wurde rasch in größere Zusammenhänge globaler Proteste gegen Polizeigewalt gerückt – vor allem in Gestalt der Black-Lives-Matter-Proteste – und kritisch diskutiert. War der Einsatz einer automatischen Waffe gegenüber einem zwar mit einem Messer bewaffneten, aber offenkundig psychisch beeinträchtigten Jugendlichen wirklich angemessen? Welche Rolle spielte dabei sein sozialer Status (als Geflüchteter) in Verbindung mit seiner Hautfarbe? Der Fall warf ein drastisches Schlaglicht auf eine Dimension staatlicher Sicherheit bzw. polizeilicher Sicherheitsproduktion, die in der klassischen, zumeist farbenblinden sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung oft übersehen wurde bzw. wird: den Nexus von (Un-)Sicherheit und Differenz.

An dieser sensiblen Schnittstelle setzt der von Sigrid Ruby und Anja Krause herausgegebene Sammelband an: „Security makes a difference in multiple ways and is ambiguous in this capacity.“ (Ruby, S. 11) Im Anschluss an die „Critical Security Studies“ wollen die Herausgeberinnen diesen Zusammenhang aus kulturhistorischer Perspektive näher erkunden. Denn für die (historische) Sicherheitsforschung sei die zentrale Frage noch nicht gestellt worden, „whether differentiation and categorization can be perceived as practices or techniques of securitization“ (S. 14). Dies soll mit einem bunten Strauß an theoretischen Bezügen gelingen – eingehender vorgestellt werden die Konzepte „Transculturalism“, „Deconstructivism“ und „Postcolonialism“.

Ruby argumentiert durchaus überzeugend, dass die großen sozialwissenschaftlichen Schulen der Sicherheitsforschung (in Kopenhagen oder Paris) Angehörige bestimmter Minderheiten primär als „security risks“ bzw. als zu versicherheitlichende Objekte wahrgenommen und untersucht haben (wenn überhaupt): „communists, feminists, people of color, LGBTQI+ people, migrants, Muslims, Jews, Roma, ‚Others‘ in general“ (S. 22). Die westlichen (National-)Staaten, ihre Sicherheitsorgane sowie auch ihre (Medien-)Öffentlichkeiten diskutierten und praktizierten Sicherheiten vor allem aus der Perspektive und im Interesse einer weißen, privilegierten Mehrheitsgesellschaft. Die Einleitung ist damit als betont politisch-aktivistisches Forschungsprogramm zu lesen: Wie (re-)produziert (un-)sicherheitsbezogenes Reden und Handeln vielfältige Unterschiede, vor allem in langfristig-historischer Perspektive?

Stefanie Rüther geht in ihrem – den ersten Abschnitt „Gemeinwesen“ einleitenden – Beitrag den Versicherheitlichungspraktiken in spätmittelalterlichen Städten nach. Sie untersucht die Ein- und Ausschlüsse in der städtischen Gesellschaft inner- wie außerhalb der Stadtmauern – etwa Prozesse der „Ausgrenzung und Einverleibung“ der jüdischen Gemeinschaften Mitte des 14. Jahrhunderts während der Pest. Die städtischen Eliten seien stets von der „Fiktion eines ursprünglichen und eigentlichen Kerns der Stadt“ geleitet gewesen, welche nur „durch die Beseitigung von Uneindeutigkeiten wiederhergestellt werden konnte“ (S. 49). Auch Florian Neiske thematisiert städtische Räume, jedoch im kolonial-imperialen Setting des 19. Jahrhunderts: Mit Blick auf die britisch-indische Hafenstadt Kalkutta kann er nachweisen, dass dort gestrandete europäische Seeleute im Blick kolonialer Beamter und Meinungsmacher zunehmend als über Klassengegensätze programmiertes Sicherheitsproblem wahrgenommen wurden, indem sie etablierte „Zugehörigkeiten und Abgrenzungen“ (S. 59) bezüglich westlich-rassis(tis)cher Überlegenheiten in Frage stellten. Jorun Poettering verschiebt die Perspektive hin zum Übergang zu postkolonialen Gesellschaften im Brasilien des 19. Jahrhunderts. Mit Blick auf das latente „Sicherheitsdilemma“ der „subalternen Menschen“ (v.a. der nicht-weißen Bevölkerungsgruppen vor bzw. nach der formalen Abschaffung der Sklaverei) arbeitet sie heraus, dass diese „nicht über ihre Unsicherheit“ sprechen konnten, „ohne ihre Differenz zu bestätigen und sich noch weiter zu gefährden“ (S. 75). Christine G. Krüger organisiert ihren Beitrag über das Wechselspiel zwischen „Gefährdung“ und „Gefährlichkeit“ im Vergleich zweier Gruppen, die in London und Hamburg während der 1970er- und 1980er-Jahre alternative Wohnformen praktizierten. Ob diese – im Rahmen medialer Debatten und politischer Diskussionen – als Bedrohung oder als Bedrohte wahrgenommen wurden, konnte sich insbesondere mit Blick auf „geschlechtsspezifische Verantwortungshierarchien“ (bezüglich schutzbedürftiger Frauen bzw. schützender Männer) bemerkenswert stark unterscheiden (S. 102).

Die zweite Sektion des Bandes behandelt „Repräsentationen“, wobei ein reich bebilderter Beitrag von Peter Haslinger „visuelle“ Versicherheitlichungen von (ethnischen) Minderheitengruppen am Beispiel ungarischer Karikaturen aus der Zeit vor 1914 untersucht. Abgedruckt in zwei einflussreichen Magazinen, waren diese Karikaturen wichtige bildpolitische Ausdrucksformen auf dem „symbolic battlefield of discourses about group-specific societal securities“ eines prekären ungarischen „nation-building“ (S. 119f.). Einen weiten Zeitraum umspannt der Text von Laura Soréna Tittel, die bildliche Darstellungen von „Sinti_ze und Rom_nja im deutschsprachigen Raum“ als Teil „der strukturellen und institutionellen Diskriminierung und der Verfolgungspraktiken“ in ihrer „historische[n] Transformation“ (S. 157f.) seit dem 18. Jahrhundert untersucht. Als in ihrer technischen Formatierung wechselhafte, aber inhaltlich stabile „Imaginationen“ eines „Zigeunerbildes“ seien diese „von staatlicher Seite über Jahrhunderte“ gezielt genutzt worden, um „Menschengruppen voneinander abzugrenzen, sie als unterschiedlich bedrohlich darzustellen und vermeintliche Differenzen festzuschreiben“ (S. 156). Stark gegenwartsbezogen ist der kulturwissenschaftliche Beitrag von Julia Wurr, die am Beispiel der britischen TV-Serie „Bodyguard“ fiktiven Inszenierungen des Islams nachgeht: Anhand der Seriencharaktere werden instrumentalisierbare „Neo-Orientalist poetics of insecurity“ herauspräpariert (S. 192), die als „proxy discourse“ aufs Engste mit dem Neoliberalismus innerhalb westlicher Gesellschaften verwoben seien (S. 194).

Aspekte von „Herrschaft, Gerichtsbarkeit, Bürokratie“ bestimmen die dritte Etappe des Buches. Anja Krause geht Fragen der Intersektionalität im England der Tudor-Zeit nach und fokussiert dabei die Bedeutung von Gender im Kontext der royalen Nachfolgestreitigkeiten: (Weibliches) Geschlecht konnte durchaus als „security issue“, als Bedrohung der politisch-sozialen Ordnung des Königreiches, wahrgenommen bzw. von den jeweiligen Gegenspielern propagiert werden. Dies musste aber nicht entscheidend sein, wie ein Vergleich der Nachfolgeszenarien im 16. Jahrhundert herausstellt, da im Zweifel vor allem Fragen des „Royal social rank“ als „most important category of difference“ gewertet worden seien (S. 237). Gabriele Hackl widmet sich den Kriegswirtschaftsverfahren am Sondergericht Wien und den dort tätigen Juristen sowie deren „extreme[r] Involvierung“ in die NS-Herrschaft (S. 247): Die dem Regime inhärente Tendenz zur „Antizipation von Bedrohungen“ habe stets neue „Unsicherheiten“ aufscheinen lassen, die wiederum zur „Implementierung neuer Normen, Verfahrens- und Rechtsprechungspraktiken“ geführt hätten (S. 242). Sigrid Wadauer widmet sich dem Konnex von „Kategorisierung“ und „Kontrolle“ in Arbeits- und Identitätsdokumenten der späten Habsburger Monarchie. Diese in ihrer Wirkung ambivalenten Dokumente hätten eine wandelbare „Bandbreite an Konstellationen“ erfasst und so sicherheitsrelevante „Eigenschaften und Unterschiede“ erzeugt (S. 262f.), die einerseits für staatliche Stellen oder private Arbeitgeber auslesbar sein konnten, aber andererseits auch deren Inhaber:innen selbst schützen konnten (S. 265). Der Beitrag von Marcel Schmeer (bei dem der Rezensent befangen ist) untersucht die Interaktionen der West-Berliner Polizei mit verschiedenen sozialen Gruppen (Frauen, „Ausländern“, Homosexuellen) nach 1945.

„Mobilitäten“ werden schließlich in der finalen Runde thematisiert. Karina Turmann widmet sich Tropenkrankheiten im kolonialen Diskurs um 1800 und weist dabei nach, wie diese körperbezogenen, medikalen Debatten „not only mystifying and exoticising“ für bestimmte Räume wirkten, sondern auch „stigmatising ideas of ‚race‘“ als sicherheitsrelevante Aspekte verfestigt hätten (S. 321) – besonders im Droh- und Zerrbild des „rebellious and aggressive black man“ (S. 330). Shaundel Sanchez geht in ihrer ethnologischen Studie ebenfalls den „racialized security measures“ nach (S. 336), indem sie durch eigene Interviews erhobene Narrative auswertet, die bei aus den USA in die Vereinigten Arabischen Emirate emigrierten Muslimen zirkulierten, welche sich massiv an der vermeintlich gefährlichen „blackness“ abarbeiteten. Dies erscheint als diskursives wie angstbezogenes Muster, das einem nur scheinbar liberalen US-Staat schlussendlich seine „racial governmentality“ ermögliche (S. 349). Huub van Baar beschließt den Band mit einem Text zum staatlichen Umgang mit (Im-)Mobilitäten von Sinti und Roma in den Niederlanden im 20. Jahrhundert. Die Regulierungsversuche deutet er als Verschränkung von „viapolitics“ und „biopolitics“ bzw. „spatio-racial political technology“ (S. 361).

Wie steht es nun um das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Differenz? Während die zeitlich wie thematisch sehr heterogenen Beiträge des Bandes ein lange Zeit vernachlässigtes Schnittfeld aus einer dezidiert historischen Perspektive aufschließen, dürften es vor allem drei Themenkomplexe bzw. Black Boxes sein, die künftig weiter zu problematisieren wären: Erstens hält die Staatszentriertheit der konventionellen Sicherheitsforschung auch ihre an Foucault und anderen geschulten Kritiker:innen offenbar fest im Bann – (national-)staatliche Akteure erscheinen in den Beiträgen häufig als übermächtige, repressive, allwissende, manipulative oder gewaltsame Entitäten, wohingegen die vielgeforderte Agency der Subalternen meist eher eine abgeleitete Größe bleibt (auch aus empirischen Gründen). Neben dem negativen Bezugspunkt des modernen Sicherheitsstaates fungiert das Paradigma der Intersektionalität als zweite historiografische Black Box: Hier werden Forscher:innen künftig noch intensiver – wie es einige Beiträge schon vorführen, etwa Anja Krauses Aufsatz – über historisch wandel- und verhandelbare Wechselbeziehungen, Abstufungen, Hierarchisierungen von möglichen Differenzkategorien diskutieren müssen, statt zumeist impliziten, aus gegenwartsbezogenen Debatten hergeleiteten Annahmen zu folgen. In den vorliegenden Texten erscheint mehrheitlich die Race-Kategorie als dominantes Differenzkriterium, gefolgt von Gender-Konstellationen, während Dimensionen klassen- bzw. schichtenspezifischer Unterschiede mittlerweile eher nachrangig anmuten. Drittens stellt sich die prinzipielle Frage nach den übergreifenden Erkenntniserträgen einer stark aktivistisch-politischen (Differenz-)Geschichtsschreibung. Diese folgt gegenwärtig tendenziell dem Drall zu einer Art von Lackmustest-Historiographie, deren analytischer Anspruch sich primär auf den empirischen Nachweis der Existenz und Wirksamkeit von meist aus sozial- oder kulturwissenschaftlichen Theorieangeboten hergeleiteten Differenzkriterien in historischen Konstellationen konzentriert. Während einige Beiträger:innen dies in einer normativ aufgeladenen Über-Eindeutigkeit tun – etwa beim Nachweis struktureller Rassismen –, setzen andere Autor:innen stärker auf das differenzierte Herausarbeiten von Ambivalenzen, Brüchen und Widersprüchen in geschichtlichen bzw. zeitgenössischen Zusammenhängen. Welche Wege eine historisch-kritische (Un-)Sicherheitsforschung künftig einschlagen sollte – dies lohnt es in jedem Falle weiter zu diskutieren. Der vorliegende Sammelband bietet hierfür einen wichtigen und anregenden Ausgangspunkt.